Küste an der Küste

Lieber einen Bussard unter'm Reifen, als gestrandet auf Neuwerk!

Lieber einen Bussard unter’m Reifen, als gestrandet auf Neuwerk!

6 Uhr morgens: Startzeit für die Roverinnen aus Itzehoe. Nach Sahlenburg soll es gehen. Denn
an diesem nicht warmen, nicht kalten Augusttag treffen sich Roverinnen und Rover sowie
Älterenschaft der Region Küste an der Küste. Von Sahlenburg aus wollen wir über den Grund
der Nordsee – durchs Wattenmeer auf die Insel Neuwerk wandern, dort im Stroh übernachten
und am nächsten Morgen wieder zurücklaufen.

Dafür müssen unsere Roverinnen aus Itzehoe über die Fähre bei Wischhafen. Norddeutsch
idyllisch liegt die Elbe da. Der Seewind in Haar und Nase. Über der Fähre schreien Möwen und
am schleswig-holsteinischen Festland wird der Leuchtturm in der aufgehenden Sonne immer
kleiner. Auf dem zweiten Teil der Autofahrt dann erwischt der Blitzer die Roverinnen frontal.
Ob es nur eine Geldstrafe oder doch ein Punkt wird ist nicht sicher. Rechtzeitig angekommen
in Sahlenburg werden einige Runden gedreht, bis ein Parkplatz gefunden ist. Dann geht es
strammen Schrittes Richtung Strand. Und keine 3 Minuten später strammen Schrittes wieder
zurück zum Auto – die Wasserflasche wurde vergessen. Vor dem Strand allerdings findet sich
noch eine kleine Bücherzelle. Schnell wird ein besonders dünnes Buch ausgesucht – für eine
Gute Nacht Geschichte am Abend (die dann leider nie zum Zuge kam). Bei den weiteren
Pfadfinder*innen aus Quickborn, Norderstedt und Osterholz-Scharmbeck angelangt werden
Gewürzgurken verstaut und auf die Lüneburger gewartet. Denn diese stecken hinter den
Pferdekutschen fest, welche uns voran ins Watt starten werden. Die Geschichte vom gestern
unglückselig unter die Reifen geratenen Bussard wird mehrmals geteilt. Auch die Erzählung
von der Mückenplage am Vorabend scheint einigen noch in den Knochen zu stecken oder eben
auf der Haut zu jucken. Schließlich sind dann auch die Lüneburger da, sodass Elk endlich die
Kühltasche aufgebürdet werden kann. Micha bringt derweil eine Batterie Würstchen am
Rucksack an und dann startet Region Küste auch ins Wattenmeer. Teils in Sandalen, teils in
derart löchrigen Docs, dass es quasi schon Sandalen sind, teils in Tinkerbell-haften
Wattschuhen. Die in kleinen Rinnsalen noch vorhandene Nordsee ist kühl, aber nicht kalt, der
Wind weht angenehm. Schnell laufen wir uns alle warm. Auf der Muschelbank teilt Micha sein
Käsebrötchen, während wühli eine Auster einsammelt. Beim großen Priel allerdings wird dann
doch um die eigenen Hosenbeine gebangt, sodass Mehrere sich dafür entscheiden ihre Hosen
auszuziehen, um bei der Durchquerung nichts zu riskieren. Denn das unangenehme Gefühl
einer nassen Unterhose kann nur noch durch eine trockene Hose konterkariert werden.

Platschi wollte besonders sicher gehen und legte auch den Rest der Strecke mit der Hose fest
um den Hals geknotet zurück. Lieber mit Unterhose im Watt, als ein Bussard unterm Auto.
Seit Beginn unserer Wattüberquerung sahen wir bereits die Insel Neuwerk und nach etlichen
Schlenkern des durch Reisigbüschel gekennzeichneten Wattweges kamen wir schließlich an.
Weit vor der stets von uns beäugten Landjugend, die schon einmal zeitgleich mit den
Norderstedtern nach Neuwerk wanderte und nach Augenzeugenberichten ihre Strecke getreu
dem Motto „Laufen und Saufen“ zurücklegte. So auch dieses Jahr. Daher setzen wir uns auf
den Deich, zogen unsere mit Watt imprägnierten Schuhe und Socken aus (oder Hosen wieder
an) und warteten geduldig auf das Ankommen jener Gruppe. Michas Feldstecher erfreute sich
während dieser Snackpause großer Beliebtheit. Während die Einen versuchten
herauszufinden, ob diese eine Person dort im Watt tatsächlich gerade einen Haufen in den
Schlick setzt, stellte wühli fachmännisch bei einem Blick durch den Feldstecher fest: „Jo, tote
Möwe.“ Die Maoams wurden angebrochen und ein ums andere Mal fiel die Frage „Will noch
jemand Apfel?“. Wir stellten zudem fest, dass alles unglaublich weit weg aussieht, wenn wir
andersherum durch den Feldstecher blickten. Einige belustigte das köstlich, Andere wedelten
wie gebannt (und nicht ganz bei Trost) vor ihren Feldstecher-Augen herum.

Nachdem alle ihre mundgerechten Apfelschnitze verdaut hatten und die Landjugend an Land
gewankt ist, konnten wir zur Fußwasch-Station aufbrechen. Von dort aus ging es weiter am
Neuwerker Leuchtturm vorbei zu unserem Heuhotel. Die Körper waren müde und wurden ins
Gras gelegt. Nur um uns dann direkt wieder zu erheben, denn kein Besuch auf Neuwerk ohne
den Leuchtturm zu besteigen. Hier versuchten wir ein gutes Foto zu schießen. Mal von der
Seite, mal von unten, teils sogar in SlowMotion. Anschließend stolperten wir in einen Graben
(oder nahmen einen nicht ganz legalen Weg Richtung Deich. In der mittlerweile
zurückgekehrten Nordsee wurde nun getestet, wo wir noch stehen können und wo nicht
mehr, welche Unterhose durchsichtig ist und ob hier eigentlich Schafkacke liegt oder doch nur
Steine. Doch lieber Schafkacke unterm Handtuch, als ein Bussard unterm Reifen.
Nach diesem wirklich ereignisreichen Tag wurden Schlafsäcke ausgerollt und penibel darauf
geachtet kein Stroh ins eigene Schlafgemach zu bugsieren. Anschließend grillten wir die
Würstchen. Auf wundersame Weise passten exakt 13 Würstchen für exakt 13 müde
Wattwanderer auf den Grill. Leider vergaßen wir dabei „Ein Hotog unten am Hafen“ zu singen.
Nach einem Blick in die Wettervorhersage für unseren morgigen Marsch sprachen wir ein
halbherziges Gebet für Sonnenschein statt Regen. „Regen Schmegen“, wie Joris sagen würde.

Auch wenn der abschließende Sonnenuntergang nicht so spektakulär war wie erhofft, blieben
wir noch eine Weile auf dem Deich. Wir sangen aus dem Bepeli und beobachteten, wie das
Unwetter immer weiter auf uns zurückte. Wir dachten über die allopatrische Trennung nach
und erst als der Wind des Unwetters uns stark entgegenbließ entschieden wir zurück zum Hof
zu kehren. Dort setzen sich die meisten zu einer Runde Werwolf zusammen. Micha teilte noch
einige seiner Snacks. Ein Unglücksrabe ging leider just dann Zähne putzen (im falschen Bad!),
als der Starkregen sich bereits über die Insel ergoß. Aber lieber durch den Regen gerannt, als
ein Bussard unterm Auto.

Noch vor Mitternacht krochen schließlich alle in ihre Schlafsäcke und schlossen die Augen.
Manche lautstark, manche weniger erholsam. Der nächste Tag – ein Sonntag – machte seinem
Namen alle Ehre. Unser doch etwas trotteliges Gebet am Vorabend wurde erhört: die Sonne
schien und das nicht nur ein paar Stunden. Bei einem kräftigen Schokomüsli-Frühstück lernten
wir zwei Studierende kennen, die ihre Nacht im Zelt auf demselben Hof verbracht hatten. In
Michas Brotdose fanden sich derweil Ei, Tomaten und so Manches andere. Nach diesem
Frühstück stiegen wir in unsere Schuhe und starteten mehr oder minder trockenen Fußes vom
Hof. Am Watt angekommen war noch einiges mehr von der Nordsee zu sehen, als am Tag
zuvor. 70cm über Null sollte die Tide betragen. Nach einigen bereits wesentlich tieferen
Prielen kam uns ein Pferdewagen entgegen. Die Wagenführerin winkte uns zurück. Wir
lachten. Ein weiterer Pferdewagen winkt: „Dreht um. Die Priele sind zu tief.“ Wir grinsten. Der
nächste Pferdewagen: „Die Priele sind zu tief, unsere Pferde kommen nicht durch.“ Wir
schauten uns an. „Seid ihr umgedreht?“ „Ja, die Pferde kommen nicht durch.“ antworteten
die Insulaner. Also drehten auch wir um. Stapften durch die Priele zurück und überlegten, was
nun zu tun ist. Die Ersten hofften schon darauf, ihren Arbeitgebenden erklären zu dürfen, dass
sie Morgen leider nicht kommen können, weil sie auf einer Insel feststecken. Die Nächsten
machten sich Gedanken um das nicht vorhandene Essen. Aber auf Micha ist Verlass, er hat
noch mindestens zwei Packungen Snackwürstchen dabei und in seinen am Rucksack
festgeklemmten Schuhen sind Mr. Toms Erdnussriegel zu erkennen. Nach diesem Rückschlag
und dem höheren Wasserstand wurden Einigen die Beine schwer. Daher bildeten wir für
einige Meter einen „Wattwurm“. Konkret bedeutete das: alle hängten sich beim
Vordermensch an den Rucksack und der arme elk vorne zog. Zurück auf der Insel erlebten wir
ein Deju vu: Pause auf dem Deich, dann zur Fußwachstation. Dort entdeckten wir, dass die
einzige Fähre des Tages restlos ausgebucht ist.

Unsere letzte Chance: Auf gut Glück eineinhalb Stunden vor Ablegen zur Anlegestelle der
Fähre laufen und hoffen, dass wir mitgenommen werden können. Wenigstens war Sonntag.
Das bedeutet: Inselkino-Zeit! Wir durften uns einen Film aussuchen. Im „Kinosaal“ halfen wir
bei der Aufstellung der Stühle, dann startete unser Film der Wahl: Eine Folge Löwenzahn mit
Peter Lustig über das Watt. Natürlich in schwarz-weiß. Nach 20 Minuten Löwenzahn blieb
noch Zeit für einen Tatort. „Tod auf Neuwerk“ hieß es da. Während die Einen versuchten
zusammen mit Stoever und Brockmöller zu ermitteln, mummeltn sich die Anderen in ihre
Schlafsäcke. Schon bald begleitete Stoever und Brockmöller ein gleichmäßiges Schnarchen
und Pfeifen. Leider fanden wir nicht mehr heraus ob Knoll der Mörder ist oder doch Friedrich
Schomann hinter allem steckt, denn wir mussten uns zur Fähre aufmachen. Vor unserem
Aufbruch beteten wir noch, etwas bang, für 13 Fährplätze. Auf dem Weg dorthin konnten wir
bereits erkennen, dass viele Andere, dieselbe Idee hatten wie wir. Da winkte uns plötzlich eine
Frau. Die Besitzerin des Heuhotels, in dessen Stroh wir geschlafen hatten. Sie freute sich sehr
uns zu sehen, denn sie hatte bereits überall versucht uns zu finden und auch mehrmals
probiert anzurufen. Sie wollte sichergehen, dass wir noch heute von Neuwerk wieder ans
Festland kommen würden. Dafür hatte sie extra – wir konnten es kaum glauben! – 14 Plätze
auf der Fähre reserviert. Wir waren ungemein erleichtert. So erleichtert, dass erst einmal eine
Austernpause einberufen wurde. Doch die Auster konnte nur von einem ganz hartgesottenen
Pfadfinder hinuntergeschluckt werden, der Rest würgte mehr als dass er aß.

Aufgeteilt auf die
drei Schlangen vor der Fähre versuchten wir zu ermitteln, wohin wir gehörten. Schließlich an
Bord trafen wir die Landjugend wieder! Platschi erspähte eine Salatschüssel mit fast
aufgegessenem Salat und konnte es sich nicht nehmen lassen: Sie fragte, ob der Salat noch
gebraucht würde. Wurde er nicht! So quetschten sich, bis auf Ben, alle unter Deck auf eine
Sitzbank und ließen den Salat herumgehen. Jetzt wurde „Ein Hotdog unten am Hafen“
nachgeholt und noch so manches andere Lied angestimmt. Auch ein Fischbrötchen war noch
drin.

Nachdem der Salat und die Brötchen verputzt waren, gab platschi die Salatschüssel
zurück und wies etwas verschämt darauf hin, dass sie auch schon ein Auge auf den 10 Kilo-
Eimer Krautsalat der Landjugend geworfen hatte. „Nehmt ihn. Esst ihn gerne auf!“ hieß es da.
So brachte platschi freudestrahlend auch die nächste Habseligkeit unter Deck. Der
Krautsalatduft zog durch den Raum, ebenso wie die Gitarrenklänge. Eine Gruppe Kinder in der
Nebenbank rief kräftig „bumm bumm“ mit uns, als wir die dicke dicke Kuh anstimmten. Unsere
Studierenden vom Frühstückstisch waren auch wieder da. Sie googelten einige Tische weiter
den Text von „Wild Rover“ und schlossen sich unserem Gesang an. Als wir anfingen Bepeli-
Pantomime zu spielen, gesellten sie sich schließlich ganz dazu. Wahrscheinlich auch, weil ihre
Sitzplätze mittlerweile von weiteren Kindern bevölkert wurden. Dann hieß es leider bald schon
Abschied nehmen. Von Bord der Fähre geklettert, suchten wir unsere Rucksäcke zusammen
und stiegen in den Bus nach Sahlenburg. Dort trennten sich dann unsere Wege. Wir waren
doch erleichtert, noch heute zurück auf’s Festland gekommen zu sein. Denn lieber hätten wir
einen Bussard unterm Auto, als gestrandet auf Neuwerk zu sein. Da sind wir uns sicher. Bis
vielleicht nächstes Jahr. Auf „Neuwerk Schmeuwerk“, wie Joris, nach eigener Aussage, immer
zu sagen pflegt.